Offener Brief an die Vorsitzende von Autismus Deutschland

Sehr geehrte Frau Kaminski,

Sie sind seit vielen Jahren Vorsitzende des Bundesverbandes Autismus Deutschland. Wann immer es in der öffentlichen Debatte um Autismus geht, haben Sie die Chance zu Wort zu kommen. Sie, als Elternvertretung, behaupten nach wie vor, dass Sie die Interessen von autistischen Menschen in Deutschland vertreten. Sie haben dabei, durch jahrelange Arbeit, eine Bekanntheit und Reichweite erlangt, die eine große Chance bedeutet. Sie haben das Privileg, gesehen zu werden und damit die Möglichkeit, die Wahrnehmung von Autismus und autistischen Menschen in der Öffentlichkeit zu verändern.

Doch statt Ihre Position dazu zu nutzen, autistischen Menschen die Chance zu geben, für sich selbst zu sprechen, sprechen Sie lieber über unsere Köpfe hinweg über uns. Das nennen Sie dann „uns eine Stimme verleihen„. Als hätten wir nicht bereits eine eigene! Als wären wir, nur weil wir anders oder garnicht mit gesprochenen Worten umgehen, nicht in der Lage für uns selbst zu sprechen. Wenn Sie soviel über Autismus wissen, wie es Ihre Position verlangt, dann wissen Sie das längst. Dann wissen Sie, dass jede_r Einzelne von uns Gedanken, Gefühle und Anliegen hat. Dass jede_r Einzelne von uns etwas zu sagen hat. Die einen mit eloquent gesprochenen Worten, die anderen mit geschriebenen und wieder andere mit Bildern, Bewegungen, Verhalten.

Autist_innen haben sich schon immer ihrer Umwelt mitgeteilt. Wir haben schon immer kommuniziert. Das ist nicht neu. Das Internet und andere Hilfsmittel bieten uns allerdings seit einiger Zeit endlich die Chance, auch verstanden zu werden. Zu interagieren und uns mit anderen Autist_innen auszutauschen. Aus der Rolle der „bemitleidenswerten, hilflosen Behinderten“ herauszuwachsen und selbstbewusst zu sagen:

Wir sind autistisch und wir wollen euch erklären, was das bedeutet. Wir wollen, dass Ihr uns besser versteht und wir wollen, dass Ihr unser Recht für uns selbst zu sprechen respektiert! Wir verlangen, dass ihr uns respektiert!

Die Geschichte der Behindertenrechtsbewegung lehrt uns, dass wir nicht die erste Gruppe von Menschen sind, die dabei auf Widerstand stößt. All die Menschen, die seit langer Zeit in unserem Namen um bessere Lebensbedingungen kämpfen, müssen sich weiterentwickeln. Sie müssen lernen, dass ihre Hilfe oft gut gemeint und aus Liebe heraus erfolgt(e), dass sie aber nicht immer das ist, was wir brauchen oder wollen. Das schmälert nicht, was viele Eltern in den vergangenen Jahrzehnten geleistet haben und weiter leisten. Es ist einfach nur eine Chance, es in Zukunft besser zu machen.

Wir versuchen seit Jahren zu vermitteln, dass wir die gleichen Ziele vertreten. Wir wollen bessere Lebensbedingungen für Autist_innen, wir wollen schädliche Vorurteile und Fehlinformationen aus der Welt schaffen, wir wollen eine Gesellschaft, in der Autist_innen sicher und gut leben können. Wir wollen nicht Mitleid und Bevormundung, wir wollen Akzeptanz. Wir wollen das für uns und wir wollen das für unsere autistischen Geschwister, die nicht öffentlich selbst dafür eintreten können.

Das traurigste, enttäuschendste und bitterste Kapitel an diesem Kampf für unsere Rechte ist, dass ausgerechnet Elternvertretungen wie die Ihre, unsere Bemühungen behindern, ignorieren und missachten. Statt uns dabei zu helfen gehört zu werden, legen Sie uns Steine in den Weg. Statt mit uns gemeinsam zu diskutieren, Strategien und Ideen zu entwickeln und sie umzusetzen, schließen Sie uns aus. Ein besonders schmerzhaftes und inakzeptables Beispiel für die Behinderung unserer Arbeit, haben Sie, Frau Kaminski, ganz persönlich zu verantworten.

Sie haben einen Autisten, der engagiert und kompetent öffentlich für unsere Ziele eintritt, diskreditiert. (Quelle: Quergedachtes – „Gedanken“)
Er hat mit seinem Konzept schon sehr viele Menschen erreicht und sorgt in seinen Gesprächskreisen dafür, dass Menschen aus erster Hand etwas darüber lernen können, was es bedeutet, Autist zu sein. Er tut dies auf eine sehr konstruktive Art und Weise, die über Aufklärung hinaus menschliche Begegnungen ermöglicht. Das Abbauen von Berührungsängsten und Vorurteilen. Statt sich darüber zu freuen und ihn seine wichtige Arbeit machen zu lassen, raten Sie in Ihrer Funktion als Vorsitzende von Autismus Deutschland davon ab, seine Gesprächskreise zu besuchen. Als wäre das noch nicht genug, zweifeln Sie öffentlich seine Diagnose an und versuchen so, ihm seine Stimme zu nehmen. Einem der wenigen von uns, die öffentlich sprechen. Und glauben Sie mir, er spricht nicht nur für sich selbst, sondern für sehr viele autistische Menschen, ohne sich dabei anzumaßen für alle zu reden. Im Gegensatz zu Ihnen. Bei allem Verständnis für Ihre Schwierigkeiten sich weiterzuentwickeln und umzudenken (Veränderungen sind nicht immer einfach), das ist inakzeptabel und ich verurteile Sie dafür. Sie haben uns offenbart, dass es Ihnen nicht wirklich darum geht, Autist_innen eine Stimme zu verleihen. Es geht Ihnen darum, den Status quo zu erhalten, in dem Sie die Deutungshoheit darüber haben, was es bedeutet, autistisch zu sein.

Wir werden das nicht hinnehmen und raten jedem einzelnen Mitglied der vielen regionalen Vereine ihres Verbandes, sich genau zu überlegen, ob eine derartige Person geeignet ist ihre und unsere Interessen zu vertreten. Denn wir wissen, dass es sehr viele unterstützende, hilfreiche Menschen in diesen Vereinen gibt, die wirklich hinhören und verstehen wollen. Die eine Welt wollen, die ihren Kindern zuhört und sie ernstnimmt, die sie als Teil dieser Gesellschaft so akzeptiert, wie sie sind. Es wird Zeit, dass diese Menschen lauter werden und sich nicht von einem rostigen, bürokratischen Verbandsapparat davon abhalten lassen, einen Unterschied zu machen.

Wenn Sie ein Fünkchen Selbstreflektionsfähigkeit besitzen, dann sollten Sie darüber nachdenken zurückzutreten, Frau Kaminski. Ihre Zeit ist vorbei. Sie leben in einer Vergangenheit, die wir alle hinter uns lassen wollen und werden. Sie werden nicht verhindern können, dass autistische Menschen sich zunehmend organisieren und für sich selbst sprechen. Alleine und mit Unterstützung unserer Bezugspersonen. Seite an Seite und nicht über unsere Köpfe hinweg.

Wir haben die wichtigste Stimme in der Diskussion um unser Leben. Sie können das akzeptieren, oder Sie treten zur Seite und machen Platz für jemanden, der es kann.

Gezeichnet

eine autistische Stimme unter Vielen

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57 Gedanken zu „Offener Brief an die Vorsitzende von Autismus Deutschland

  1. Ute

    Verwerflich unmenschlich ist, das manche Menschen in verantwortungsvollen Positionen, den Sinn der Position aus den Augen verloren haben und nur noch Sinn darin sehen, „OBEN“ zu bleiben.
    Ich unterschreibe den Brief mit ganzem Herzen und als Nichtautistin.

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  2. KiezkickerDe

    Darf ich das noch unterschreiben? Ich hänge im Moment etwas hinterher, weil so viele Autisten so viele Dinge schreiben, für sich und vielleicht auch andere sprechen – und nicht bloss über Autisten.

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  3. Fischer

    Gerne unterzeichnet.
    Das Umdenken in den Köpfen ist ein wichtiges Problem. Die Umsetzung von geeigneten Hilfen wie z.B. Onlinbeschulung für Autisten wird außer Acht gelassen. Es wird vergessen, dass wir im Zeitalter der modernen Komunikation (Internet) leben und sich so auch viele Möglichkeiten finden lassen wenn man denn möchte.

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  4. nikamonte

    ich habe das Glück, mehrere ganz unterschiedliche Autisten regelmässig zu treffen. Und ich erlebe mich reich beschenkt von ihren Gaben, mit denen sie, so wie jedermensch einen ureigenen Beitrag geben können. Damit lenken sie die WahrNehmung genau auf dieses Phänomen: Jeder Mensch ist einzigartig und bringt etwas mit für die anderen. Lasst uns Räume dafür öffnen und gestalten – in aller Freiheit und Wertschätzung.

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