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ABA, Reparaturwahn und was ihr uns wirklich antut

Ich denke über diesen Text schon seit über einem halben Jahr nach. Trotzdem weiß ich noch immer nicht, welche Worte die richtigen sind. Welche Formulierungen dem abgrundtiefen Unrecht gerecht werden, das autistischen Menschen Tag für Tag widerfährt. Ich habe keine Worte für den Schmerz, die Angst, die Traurigkeit, die ihr mit eurem Verhalten in mir auslöst. Aber ich kann nicht länger warten, also gebe ich mich mit einem unzulänglichen Versuch zufrieden und fange einfach an zu schreiben.

Alles beginnt damit, dass ihr nur Leben als lebenswert anseht, dass eurer beschränkten Vorstellung von Normalität entspricht. Ein Mensch muss sprechen, von wem auch immer aufgestellte soziale Normen erfüllen, sich auf eine bestimmte Weise verhalten und genauso aussehen wie alle anderen. Dann ist er ein Mensch und sein Leben ist lebenswert. Wenn das nicht zutrifft, dann ist etwas mit ihm nicht in Ordnung, dann ist er irgendwie beschädigt und kein vollwertiger Mensch. Dann benötigt er eine Reparatur, häufig perfide auch als „Hilfe“ bezeichnet, damit er glücklich sein kann. Das bedeutet, damit er wie ihr sein kann. Denn nur dann ist sein Leben lebenswert. Das ist es, was ihr voraussetzt. Und das ist absolute Kackscheiße. Auf so vielen Ebenen, dass ich garnicht weiß, wo ich anfangen soll.

Unser Leben ist lebenswert, so wie wir sind. Wir sind liebenswert und liebensfähig. Wir haben Gefühle, so viele und so intensive Gefühle, das sie uns oft überfordern. Wir empfinden Mitgefühl und haben sehr feine „Antennen“ für die Stimmungen um uns herum. Wir können uns freuen, an so vielen wunderschönen Dingen und an Menschen. Wir können Freunde haben und lieben und lachen. Wir kommunizieren. Jede*r Einzelne von uns kommuniziert auf die eine oder andere Weise.

Wir bewegen uns anders als ihr. Wir kommunizieren anders als ihr. Wir nehmen die Welt anders wahr als ihr. Wir denken anders als ihr. Aber wir atmen und lieben und lachen genau wie ihr. Wir weinen wie ihr und wir empfinden Schmerz und Angst und Traurigkeit, genau wie ihr.

Und meistens seid ihr die Ursache dafür. Nicht unser Autismus. Wir merken, wie ihr uns behandelt, wie ihr uns misshandelt. Wir merken eure Macht über uns zu bestimmen, aber wir können uns nicht dagegen wehren. Wir merken eure Missachtung unserer Menschlichkeit.

Wir merken, wie ihr unsere Identität, unsere Individualität, unsere Persönlichkeit, unsere Hoffnung systematisch zerstört. Bis wir es nicht mehr merken können, weil ihr uns kaputt gemacht habt. Ihr trainiert uns ein Leben lang darauf jemand zu sein, der wir nicht sind. Zwingt uns unsere Individualität, unser Menschsein, unser Ich zu verleugnen und jemand anders zu sein. Ihr vermittelt uns eine unfassbare Scham wir selbst zu sein. Ihr unterzieht eure Kinder systematischer Gehirnwäsche. Ihr programmiert sie wie Computer. Und dann brecht ihr in Tränen der Rührung aus, wenn ihr dem Computer, den ihr euer Kind nennt, die Worte „Ich hab dich lieb“ einprogrammiert habt und er die korrekte Ausgabe liefert. Ihr seht uns nicht. Ihr respektiert uns nicht. Und ganz sicher liebt ihr uns nicht.

Liebe bedeutet jemanden sehen, so wie er ist. Und die, die man sieht wunderbar finden, einmalig schön. Liebe bedeutet die, die man liebt beschützen und bewahren zu wollen, damit sie genau so wunderschön und einmalig sein kann, wie sie ist. Damit sie sich entwickeln und wachsen kann und noch schöner und glücklicher wird. Noch mehr sie selbst.

Liebe bedeutet nicht jemanden zu terrorisieren, zu misshandeln und in jemand Anderen zu verwandeln. Jemanden, den zu lieben ihr fähig sein könntet. Vielleicht. Wenn ihr überhaupt wüsstet, was das bedeutet.

Ein glückliches Leben bedeutet nicht, den kaputten Erwartungen einer kaputten Gesellschaft zu entsprechen. Es bedeutet nicht ein Mensch zu sein, der aussieht wie alle Anderen. Man muss nicht mündlich sprechen, um glücklich zu sein. Man muss überhaupt nicht sprechen. Man muss niemandem in die Augen sehen, um glücklich zu sein. Man muss nicht mit Messer und Gabel essen können. Man muss überhaupt keine Regeln erfüllen, um glücklich zu sein.
Man muss einfach nur sein dürfen. Selbst.

Ihr behandelt eure autistischen Kinder und die autistischen Menschen, die euch anvertraut sind, wie Dreck. Ihr misshandelt sie systematisch. Ihr verbietet ihnen, sie selbst zu sein und zu leben. Und ihr erfindet Ausreden dafür. Ausreden, die darüber hinwegtäuschen, dass es euch nur darum geht eure Macht aufrecht zu erhalten. Eure Hoheit darüber, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ein lebenswertes Leben zu führen.

Ihr zerstört uns. Das ist es, was ihr uns antut. Was ihr tut ist keine Hilfe. Ihr benutzt unsere Hilflosigkeit, um eure bigotte, kleingeistige, verängstigte Welt vor dem Einstürzen zu bewahren. Und ihr merkt nicht mal, wie ihr damit auch euch selbst zerstört. Wie ihr euch selbst die Chance auf Liebe und Wachstum und ein glückliches Leben entzieht.

Welches fühlende, liebende Wesen kann die brutale Konditionierung und Gehirnwäsche eines hilflosen Kindes, den Entzug von Liebe und Sicherheit und Akzeptanz, auch nur für eine Sekunde in Betracht ziehen? Als etwas Anderes sehen, als es wirklich ist?
Gewalt. Machtaussübung. Grausamkeit.

Anna

Vor dem 1. Stammtisch

Es ist 11:44 Uhr.
Ich habe mein Vormittagsprogramm erledigt, wie jeden Tag.
Beruhigende Berechenbarkeit.
Und doch fühlt sich heute alles anders an.
Ich werde jetzt um 12 Uhr nicht am Schreibtisch meine Uni-Arbeit beginnen. Es ist ausgeschlossen, dass ich mich auf irgendwelche Prüfungsfragen konzentrieren kann. Dafür kann ich nicht lange genug stillsitzen.

Wenn ich aufgeregt, nervös oder gestresst bin, erhält man die einmalige Gelegenheit den Vorzeigeautisten in mir kennenzulernen. Eher unfreiwillig irritiere ich die Dorfbewohner mit meinen angenehmen Wedeleien und Handbewegungen. Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr mir das hilft! Es ist der effektivste und harmloseste Weg die Anspannung zu kontrollieren. Heute gelingt es mir sowieso nicht es zu unterdrücken, mich zu tarnen, normal auszusehen. Ich bemerke ihre Blicke nicht, kann meinen eigenen ja kaum vom Boden abwenden. Aber ich weiß, dass sie mich anschauen. Ich weiß nicht, was sie denken. Und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Aber irgendwas denken sie und wenn ich es wüsste, würde es mich wahrscheinlich aufregen. Manchmal ist es auch garnicht schlecht, die Menschen nicht nachvollziehen zu können.

Heute findet unser erstes Stammtischtreffen in Nürnberg statt. Was vor ein paar Monaten nur eine Idee war, wird jetzt 5 Menschen, die sich (vermutlich) noch nie gesehen haben, an ein und denselben Ort führen. Wir werden um einen Tisch herum sitzen, in einem netten Café, und… und was? Was wird passieren? Ich würde gerne den Ablauf des heutigen Tages detailliert in Gedanken durchspielen, aber das wird wohl nicht funktionieren. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nicht, ob und worüber wir uns unterhalten werden. Ich weiß nicht, ob ich zu etwas Anderem, als Zuhören fähig sein werde. Vier fremde Menschen auf einmal. Ich muss verrückt sein!

Andererseits sind es auch keine vollkommen Fremden mehr. Wir hatten Zeit uns auf schriftlichem Wege während der gemeinsamen Organisation ein wenig kennenzulernen. Und doch ist da die Angst neben der Aufregung und Freude über das, was wir geschafft haben.

Was, wenn ich es nicht schaffe normal genug aufzutreten?
Was, wenn sie alle viel weniger verrückt aussehen, als ich?
Was, wenn auch mit ihnen die Kommunikation so schrecklich kompliziert ist?
Was, wenn sie mich heimlich auslachen oder sich Blicke zuwerfen und ich es nicht bemerke?
Was, wenn die Fahrt in die Stadt, die Menschen, all der Lärm und die Eindrücke mich überfordern und ich…

Stopp!

Das ist es, was das Leben unter Nichtautisten mit uns macht. Unter ständiger Angst, ständigem Anderssein, ständiger Beobachtung. Ständig dafür ausgeschlossen, abgelehnt, misstrauisch oder mitleidig beäugt werden, dass wir Dinge tun, die sie nicht verstehen.

Es sollte mir egal sein, das weiß ich.
Aber es ist mir nicht egal.
Weil dieser Autist Gefühle besitzt.
Echte, menschliche Gefühle, mit allem was dazu gehört.

Aber ich weiß auch, dass ich mich sehr auf unser Treffen freue, auch wenn ich diese ganzen Gefühle gerade nicht auseinanderhalten kann. Ich weiß es einfach, weil es etwas Gutes ist. Etwas Gutes, das ich ohne Erwartungen an die Anderen angehe. Wer, wenn nicht diese Menschen, sollte meine Befürchtungen nachvollziehen können?

Ich habe mich, nach einer notwendigen Gewöhnung, in Gegenwart von anderen Autisten bisher immer frei gefühlt. Frei zu Sein.
Meine Augen waren frei, weil ich sie nicht zwingen musste in die Augen des Anderen zu starren. Nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz.
Meine Hände waren frei sich zu bewegen.
Vielleicht gab es auch hier Blicke, die ich nicht bemerkt habe.
Aber es waren keine urteilenden Blicke. Es war reine Neugierde auf das andere Wesen und das, was es da tut.

Und wenn ich mich an diese Begegnungen erinnere, an die Selbstverständlichkeit von minutenlangem Schweigen, aneinander Vorbeischauen und die manchmal unbeholfenen Gesprächsansätze, dann weiß ich, dass ich keine Angst haben muss.
Dann weiß ich, dass es gut wird, egal wie es wird.

Es ist jetzt 12:22 Uhr.
Ich werde jetzt unvernünftigerweise noch einen Kaffee trinken und hoffe, ich schmeiße die Tasse nicht wieder auf den Boden, weil ich vergesse, dass ich sie in der Hand halte. Und ich werde weiter wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus laufen und versuchen irgendwas Sinnvolles zu tun. Und dann werde ich in den Zug steigen, in die Stadt fahren und einen schönen Abend haben.

Anna