Schlagwort-Archive: Angst

#AutismIsNotACrime

„Autismus ist kein Verbrechen“, lautet die Aussage des Hashtags, unter dem gerade auf Twitter weltweit Autist*innen gegen die massive Konstruktion einer kausalen Verbindung von Autismus und Gewaltverbrechen durch die Medien protestieren. Dabei entstehen gerade unzählige, fantastische Blogartikel.

Aktueller Auslöser ist die Mordserie durch Elliot Rodger in Kalifornien. Bei ihm wurde angeblich als Kind das Asperger-Syndrom diagnostiziert, behauptete eine Zeitung. Reflexartig griffen andere Medien diese Aussage auf, insbesondere hier in Deutschland schaffte es dieses Detail direkt in die Überschriften, während alle anderen, wirklich wichtigen Umstände völlig vernachlässigt wurden. Wie zum Beispiel der maßlose Frauenhass des Täters oder die Namen seiner Opfer. Oder dass er seine Taten angekündigt hat, die Polizei das aber nicht ernstnahm. Oder dass er seit vielen Jahren in therapeutischer Behandlung war und trotzdem niemand etwas getan hat. Oder dass er in den USA ganz legal ein ganzes Waffenarsenal ansammeln durfte. Alles nicht wichtig, so lange man eine schöne Schlagzeile hat und so ein autistischer Amokläufer macht sich doch immer gut (Ironie).

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass es noch nicht mal die Wahrheit ist. Eine reine Vermutung der Eltern, die ihren Sohn nicht verstanden haben und überfordert waren. Autisten ist ja schließlich alles zuzutrauen und die Eltern sind dann unschuldig. Die können ja nichts dafür, dass er zu solchen Monströsitäten fähig war, er war ja Autist! (Ironie)
Wie auch immer, ich finde es garnicht wichtig, ob er denn jetzt nun Autist war oder nicht. Es spielt schlicht und ergreifend keine Rolle. Was ich allerdings wichtig finde, ist der Umgang der Medien damit. Er war vor allen Dingen ein Mensch, der Frauen und andere Menschen so sehr gehasst hat, dass er sie umgebracht hat. Das spielt eine Rolle. Über die Gründe dafür sollen Andere schreiben – was aktuell auch ausgiebig getan wird.

Autismus ist kein Verbrechen. Vor allem ist Autismus nicht die Ursache für Gewalttaten, die von Menschen verübt werden.

Autisten begehen weniger Verbrechen als Nichtautisten, werden gleichzeitig aber wesentlich häufiger Opfer von Gewaltverbrechen. Wir werden schon als Kinder geschlagen, getreten und gedemütigt. In der Schule, auf der Straße und in unserem eigenen Zuhause. Wir werden behandelt wie Dreck. Kinder und Jugendliche terrorisieren und quälen ihre autistischen Mitschüler*innen. Mobbing, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sind auch für erwachsene Autist*innen bittere, tägliche Realität.

Als wäre das noch nicht genug, stellt man uns bei jeder nur möglichen Gelegenheit als Gewaltverbrecher dar. Gefühlskalte, emotionslose Monster, die Menschen bestialische Dinge antun.

UNS tut man bestialische Dinge an. Bestialisch = unmenschlich. Man quält, missachtet und misshandelt uns und spricht uns unsere Menschlichkeit ab. IHR tut uns das an. IHR, die ihr am lautesten „Monster“ schreit, wenn wieder mal ein Autist als Verbrecher in den Medien dargestellt wird. IHR, die ihr fordert, man solle uns alle wegsperren. IHR, die ihr autistische Kinder „nur zur Sicherheit“ mit Mikrochips markieren wollt, als wären sie Hunde. IHR, die ihr uns das Recht zur Reproduktion absprecht. IHR, die ihr fordert, man solle uns am besten direkt umbringen.

IHR wagt es zu urteilen?
Wer ist hier wirklich das Monster?
Wer von uns verhält sich wirklich unmenschlich?
Vor wem sollten wir wirklich Angst haben? – Vor dem überforderten autistischen Kind, das in einer feindseligen Umwelt zu überleben versucht? Oder vor den Kindern, die es brutal zusammenschlagen, sein Leben bedrohen und es dann noch anpinkeln? (Ja, das erleben sehr viele autistische Kinder Tag für Tag.)

Eure scheinheilige Doppelmoral widert mich an. Ihr lasst zu, dass eure eigenen Kinder Andere wie Dreck behandeln und dann stellt ihr uns als emotionslose, asoziale Monster dar. Merkt ihr wirklich nicht, wer hier tatsächlich das Problem ist? Fragt euch doch endlich, was mit dem Sozialverhalten EURER Kinder nicht stimmt, wenn sie auf Schwächere einprügeln müssen, sie demütigen und ausgrenzen. Fragt euch lieber, was mit EUREM Menschenbild nicht in Ordnung ist, wenn ihr sie dafür auch noch in Schutz nehmt.

Aber hört verdammt nochmal auf uns als Verbrecher hinzustellen. Und fangt endlich damit an respektvoll und achtsam mit anderen Menschen umzugehen. Mit allen Menschen. Das schließt auch die ein, die ihr nicht versteht, weil sie anders sind, als ihr es seid.

Anna

Vor dem 1. Stammtisch

Es ist 11:44 Uhr.
Ich habe mein Vormittagsprogramm erledigt, wie jeden Tag.
Beruhigende Berechenbarkeit.
Und doch fühlt sich heute alles anders an.
Ich werde jetzt um 12 Uhr nicht am Schreibtisch meine Uni-Arbeit beginnen. Es ist ausgeschlossen, dass ich mich auf irgendwelche Prüfungsfragen konzentrieren kann. Dafür kann ich nicht lange genug stillsitzen.

Wenn ich aufgeregt, nervös oder gestresst bin, erhält man die einmalige Gelegenheit den Vorzeigeautisten in mir kennenzulernen. Eher unfreiwillig irritiere ich die Dorfbewohner mit meinen angenehmen Wedeleien und Handbewegungen. Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr mir das hilft! Es ist der effektivste und harmloseste Weg die Anspannung zu kontrollieren. Heute gelingt es mir sowieso nicht es zu unterdrücken, mich zu tarnen, normal auszusehen. Ich bemerke ihre Blicke nicht, kann meinen eigenen ja kaum vom Boden abwenden. Aber ich weiß, dass sie mich anschauen. Ich weiß nicht, was sie denken. Und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Aber irgendwas denken sie und wenn ich es wüsste, würde es mich wahrscheinlich aufregen. Manchmal ist es auch garnicht schlecht, die Menschen nicht nachvollziehen zu können.

Heute findet unser erstes Stammtischtreffen in Nürnberg statt. Was vor ein paar Monaten nur eine Idee war, wird jetzt 5 Menschen, die sich (vermutlich) noch nie gesehen haben, an ein und denselben Ort führen. Wir werden um einen Tisch herum sitzen, in einem netten Café, und… und was? Was wird passieren? Ich würde gerne den Ablauf des heutigen Tages detailliert in Gedanken durchspielen, aber das wird wohl nicht funktionieren. Ich weiß nicht, was mich erwartet. Ich weiß nicht, ob und worüber wir uns unterhalten werden. Ich weiß nicht, ob ich zu etwas Anderem, als Zuhören fähig sein werde. Vier fremde Menschen auf einmal. Ich muss verrückt sein!

Andererseits sind es auch keine vollkommen Fremden mehr. Wir hatten Zeit uns auf schriftlichem Wege während der gemeinsamen Organisation ein wenig kennenzulernen. Und doch ist da die Angst neben der Aufregung und Freude über das, was wir geschafft haben.

Was, wenn ich es nicht schaffe normal genug aufzutreten?
Was, wenn sie alle viel weniger verrückt aussehen, als ich?
Was, wenn auch mit ihnen die Kommunikation so schrecklich kompliziert ist?
Was, wenn sie mich heimlich auslachen oder sich Blicke zuwerfen und ich es nicht bemerke?
Was, wenn die Fahrt in die Stadt, die Menschen, all der Lärm und die Eindrücke mich überfordern und ich…

Stopp!

Das ist es, was das Leben unter Nichtautisten mit uns macht. Unter ständiger Angst, ständigem Anderssein, ständiger Beobachtung. Ständig dafür ausgeschlossen, abgelehnt, misstrauisch oder mitleidig beäugt werden, dass wir Dinge tun, die sie nicht verstehen.

Es sollte mir egal sein, das weiß ich.
Aber es ist mir nicht egal.
Weil dieser Autist Gefühle besitzt.
Echte, menschliche Gefühle, mit allem was dazu gehört.

Aber ich weiß auch, dass ich mich sehr auf unser Treffen freue, auch wenn ich diese ganzen Gefühle gerade nicht auseinanderhalten kann. Ich weiß es einfach, weil es etwas Gutes ist. Etwas Gutes, das ich ohne Erwartungen an die Anderen angehe. Wer, wenn nicht diese Menschen, sollte meine Befürchtungen nachvollziehen können?

Ich habe mich, nach einer notwendigen Gewöhnung, in Gegenwart von anderen Autisten bisher immer frei gefühlt. Frei zu Sein.
Meine Augen waren frei, weil ich sie nicht zwingen musste in die Augen des Anderen zu starren. Nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz.
Meine Hände waren frei sich zu bewegen.
Vielleicht gab es auch hier Blicke, die ich nicht bemerkt habe.
Aber es waren keine urteilenden Blicke. Es war reine Neugierde auf das andere Wesen und das, was es da tut.

Und wenn ich mich an diese Begegnungen erinnere, an die Selbstverständlichkeit von minutenlangem Schweigen, aneinander Vorbeischauen und die manchmal unbeholfenen Gesprächsansätze, dann weiß ich, dass ich keine Angst haben muss.
Dann weiß ich, dass es gut wird, egal wie es wird.

Es ist jetzt 12:22 Uhr.
Ich werde jetzt unvernünftigerweise noch einen Kaffee trinken und hoffe, ich schmeiße die Tasse nicht wieder auf den Boden, weil ich vergesse, dass ich sie in der Hand halte. Und ich werde weiter wie ein aufgescheuchtes Huhn durchs Haus laufen und versuchen irgendwas Sinnvolles zu tun. Und dann werde ich in den Zug steigen, in die Stadt fahren und einen schönen Abend haben.

Anna

Ihr tut mir weh

Und dann gibt es diese Tage, an denen ich mich so schutzlos und ausgeliefert und nackt fühle. An denen nichts übrig ist von meiner Energie, um zu kommunizieren oder zu verstehen oder Appelle zu schreiben.

Ihr tut mir weh mit jedem Wort. Ganz gleich zu wem ihr es sagt, es fühlt sich an wie ein Schlag. Jedes einzelne Wort ein Schlag auf meinen sowieso schon wunden Körper.

Jeder Lichtstrahl schmerzt so sehr in meinen Augen, dass ich sie am liebsten den ganzen Tag über nicht öffnen würde. Wären die Geräusche dann nur nicht noch lauter und müsste ich nicht mein Leben weiterleben, mit all seinen Aufgaben und Abläufen und Routinen, ohne die ich all das noch viel schwerer ertragen könnte.

Eure pure Existenz, so sie sich in meine Umgebung ausdehnt, ist mir zuviel. Ich kann euer Lachen nicht ertragen und euer Schreien lässt mich verzweifeln.

Ich fühle mich so schutzlos und allein und wie das einzige Wesen meiner Art auf diesem Planeten.

Ich verstehe nicht, was ihr sagen wollt mit euren furchtbaren Worten und Bewegungen. Ich will nur, dass ihr alle verschwindet und ich so allein sein kann, wie ich mich innen fühle.

Und tief drin ist da gleichzeitig ein leiser Wunsch. Nach einem Menschen, der mir so vertraut ist, dass seine Anwesenheit sich so anfühlt, als wäre er garnicht da. Den ich in meiner Nähe ertragen könnte, schweigend. Ein Mensch, gegen den ich von Zeit zu Zeit meinen von der Welt schmerzenden Kopf lehnen könnte, nur für eine kurze Weile, und der nichts dazu sagt. Ein Mensch, dessen Berührungen mich nicht zusammenzucken lassen. Vor dessen Händen ich nicht fliehen will. Dessen Umarmung mich abschirmt vor der Welt und mich nicht verstört die Flucht ergreifen lässt.

Aber es gibt diesen Menschen nicht. Weil ich niemanden lange genug in meiner Nähe ertrage, um eine solche Vertrautheit entstehen zu lassen. Ich brauche das Alleinsein fast noch dringender, als das Atmen. Und darum gibt es diesen Menschen nicht und darum will ich, dass ihr alle verschwindet. Jetzt! Sofort!

Bis ich mich erholt habe von euren auf mich einschlagenden Worten und unverständlichen Botschaften und unerklärlichen Erwartungen. Von der Verwirrung, den Schmerzen, der Angst. Damit ich euch dann wieder eine Weile ertragen kann und mich an euch gewöhne. An einen oder zwei von euch. Damit es irgendwann leichter wird in eurer Nähe zu sein. Irgendwann, mit viel Geduld.

Aber jetzt tut ihr mir einfach weh.

Ihr und jedes Geräusch und das Licht und sogar meine eigenen Gedanken.

Anna