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Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie?

Spurensuche über Alltag und Handeln

Wer kennt es nicht? Ob Schüler oder Studentinnen: Oft ist im Unterricht oder der Vorlesung der Ruf nach mehr Praxis oder Beispielen laut. Ich als Autist dagegen wäre froh, wenn mehr vom Allgemeinen zum Besonderen abgeleitet würde, nicht nur im Bereich Bildung, sondern auch im Alltag. Daher freue ich mich zum Beispiel über Termine mit Tagesordnung oder jene mit einem wiederkehrenden Ablauf, etwa ein Gottesdienst.

Die Mathematik ist prädestiniert dafür, theoretisch zu sein. Bild: © bernhard_pixler  / pixelio.de

Kleines Gespräch, große Anstrengung

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Dein Sohn ist doch behindert!

Dein Sohn ist doch behindert…

Lange bevor ein Arzt die Diagnose Autismus bei meinem Sohn stellte, hörte ich diesen Satz von einer Mutter. Einer besonders mutigen Mutter, die aussprach, was sich alle schon lange dachten, sich nur nicht wagten, es zu äußern. Auch ich. Trotzdem trafen mich diese Worte wie ein Faustschlag.

Das etwas anders war, ahnte ich nämlich schon lange. Im Grunde schon kurz nach der Geburt, aber spätestens bei der U3, als der erfahrene Kinderarzt meinte, dass mein Sohn nicht auf Geräusche reagieren würde. „Entweder ist er taub, oder….“ Leider ging er kurz darauf in Rente und ich sollte viele Jahre keinem kompetenten Arzt mehr begegnen.

Das Gehör wurde jedoch noch überprüft und man stellte fest, dass mein Sohn erst bei 120 Dezibel eine Reaktion zeigte, aber das Gehör war sonst intakt. So schob ich das komische Gefühl erstmal beiseite und beobachtete und beobachtete, damals hatte ich keine Ahnung von Autismus. Feststellen konnte ich, dass mein Sohn kein glückliches Kind war, er schrie sehr viel und schlief kaum. Nur in seinem Laufställchen war er glücklich. Ich gestehe, dass ich auch an eine geistige Behinderung gedacht habe, denn viel Kontakt konnte man nicht mit ihm aufnehmen, selten sah er mich an. Aber ich beobachtete, wie er mit 8 Monaten mit seinen Legosteinen umging. Fiel eines aus seinem Ställchen, dann griff er danach und weil er mit der geschlossenen Faust nicht mehr durch das Gitter kam, stellte er sich hin und griff dann mit der anderen Hand danach. Geistig behindert sah das nicht aus. Außerdem baute er damit ein Haus. Jeden Tag das gleiche, mit den selben Farben an der selben Stelle.

Auch ansonsten entwickelte er sich normal – nur schien es dennoch eine motorische Ungeschicklichkeit zu geben, denn wenn er lief, lief er, egal was ihm im Weg stand, er lief einfach darüber hinweg. Den neuen Kinderärzten fiel allerdings nichts auf und man fand „alles normal“. Das half, um meine innere Stimme vorerst zum Schweigen zu bringen. Sie muckte allerdings wieder auf, als ich mit meinem Sohn in eine Krabbelgruppe ging und die gleichaltrigen Kinder sich auffällig anders verhielten. Sie sprachen nämlich mit ihrer Mutter, oder zumindest verstanden sie, wenn diese etwas von ihnen wollte. Mein Sohn sprach nicht mit mir (aber er ist ja noch so klein, versuchte ich mich zu beruhigen) und er schaute mich nicht an.

Unruhiger wurde ich wieder, als ich beobachten konnte, wie sich die nur 16 Monate jüngere Schwester entwickelte. Aber auch dafür gab es Erklärungen: „Es ist doch ein Mädchen, die sind immer fitter als die Jungs“. Ja, das sollte es wohl sein.

Dann kam der erste Tag im Kindergarten. Ich mache es kurz: mein Sohn war keine 2 Wochen dort, dann bat man mich, ihn herauszunehmen. Und da fiel zum ersten Mal das Wort „Autismus“, welches ich dann auch beim Kinderarzt aussprach. Da sah ich ihn zum ersten Mal, diesen Blick von Ärzten, wenn man sich wagt, eigenmächtig eine Diagnose auszusprechen. Inzwischen habe ich gelernt, dass man das nicht darf. Man nennt nur die Symptome, aber die Diagnose kommt vom Arzt. Das zu lernen, hat mich mehrere Jahre gekostet, schließlich bin ich, wie ich heute weiß, selbst Autistin und soziale Regeln sind mir zwar inzwischen nicht mehr fremd, müssen aber erlernt werden. Damals jedenfalls war mir nicht klar, dass es automatisch NICHT zu einer Diagnose kommt, wenn man selbst damit ankommt. Jedenfalls war auch damals wieder „alles normal“.

Ja….dann hörte ich zufällig von einer SVE (Schulvorbereitenden Einrichtung) und meine innere Stimme, die zum Glück nie ganz verschwand, riet mir, meinen Sohn dort vorzustellen. Sie beobachteten ihn und ich sah ein Lächeln auf den Lippen der Förderlehrerin, als sie ihn betrachtete. Er spielte mit einem Auto und sprach mit sich selbst und benutzte dabei auch allerlei Fremdwörter – aber ein normales Gespräch konnte man nicht mit ihm führen. Außerdem faszinierten ihn Zahlen, die für ihn „leuchteten“, oder verschiedene Farben hatten. Er legte auch gerne Puzzle, dabei war es egal, ob die Vorder – oder Unterseite zu sehen war. Wichtig war nur, dass man nur EINE Seite sah, war ein Teil falsch herum, erkannte er es nicht und schrie. Jedenfalls bekam er den Platz in der SVE.

Die Förderlehrerin war ein Schatz, sie erkannte schnell, wo die Schwierigkeiten meines Sohnes lagen, sie sah aber auch seine Stärken. Dadurch, dass nur 8 Kinder in der Gruppe waren und neben der Förderlehrerin noch eine Erzieherin, konnten sie auf jedes Kind gut eingehen. Keines der anderen Kinder interessierte sich für Zahlen oder Buchstaben, aber das war egal, mein Sohn durfte sich seine Bücher ansehen und so brachte er sich auch selbst das Lesen bei – eine richtige Interaktion kam nämlich noch immer nicht zustande, obwohl er mehr und mehr zu verstehen schien, wenn auch auf seine Weise. Einmal erzählte die Förderlehrerin, wie sie zu ihrer Kollegin scherzhaft meinte: „Jetzt habe ich aber die Nase voll!“ und mein Sohn daraufhin in ihre Nase schaute und feststellte: „Da ist doch gar nichts drin.“

Auch sonst zeigte sich mein Sohn, sagen wir mal….sprachlich kreativ. Mit der Zeit sammelten sich eine Menge Wörter an, die er sich ausgedacht hatte. Aus Hustenbonbons wurden „Arztbonbons“, aus dem Mundwasser „Gurglung“ und aus dem Rechen ein „Leiterbesen“. Auch sonst fiel seine Kommunikation auf, auch wenn man dafür gut hinhören musste. So fragte ihn ein Arzt aus dem BKH, den ich auf Rat der Förderlehrerin aufsuchte, einmal: „Seit wann hast du denn deine Brille?“ Mein Sohn: „Meine Brille ist grün.“ Ich beobachtete damals die Szene und überlegte gerade, ob der Arzt, wie schon viele davor, es dabei belassen würde, weil ihm schlichtweg nichts aufgefallen ist, als er mich überraschte und weiter fragte: „Ich habe dich aber gefragt, seit wann du deine Brille hast?“ Mein Sohn daraufhin, der schon gemerkt hatte, dass er die falsche Antwort gegeben hat: „Meine Mutter hat auch eine Brille.“ An der Reaktion des Arztes konnte ich feststellen, dass es endlich registriert worden ist – da stimmt etwas nicht!

Mit der Zeit merkte ich, dass mein Sohn immer wieder „auswendig“ gelernte Sätze von sich gab, als hätte er eine Kiste mit lauter Karteikarten und Begriffen und würde bei jedem fallendem Begriff eine Karte mit dem Satz dazu herausnehmen. Bemerkte er aber, dass ein Satz nicht passt, speicherte er es ab. So machte er mit der Zeit immer weniger „Fehler“ und heute, mit 15 Jahren, geschehen sie kaum noch. Im Gegenteil, er ist sogar besonders Sprachbegabt, Latein zählt zu seinen Lieblingsfächern.

Nach der SVE sollte mein Sohn natürlich die Schule besuchen – nur welche? Er konnte lesen, schreiben, bis unendlich zählen, rechnen……aber sich „sozial adäquat verhalten“…nein, das konnte er nicht. Noch einige Jahre später lag er in der Schule noch oft unter dem Tisch, oder zerbrach seine Brille oder den Füller. Daher fiel die Wahl auf eine Förderschule. Ziemlich zeitgleich hatte ich Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen, weil man mir zu einer Therapie in der Autismus-Ambulanz riet und der Kostenträger nun mal das Jugendamt ist. Leider, denn dass damit ein weiteres, leidvolles Kapitel aufgeschlagen wurde, konnte ich nicht ahnen.

Die Psychologin vom JA zweifelte an der Diagnose, nicht nur das, sie warf mir an den Kopf:“Sie haben wohl lieber ein behindertes, als ein hochbegabtes Kind?“ Damit traf sie einen wunden Punkt, denn noch immer hatte ich die Hoffnung, dass sich alles verwachsen würde. So stimmte ich zu, dass mein Sohn nach der Schule in eine Heilpädagogische Tageststätte gehen sollte, (aber nicht ohne mir eine zweite Meinung vom einem Facharzt zu holen, der abermals die Diagnose Autismus stellte) was am Ende jedoch nur eine einzige Quälerei war, denn die anderen Kinder nutzen jede unbeobachtete Minute, meinen Sohn zu schlagen, beschimpfen und zu bespucken. Als ich die Maßnahme beendete, erntete ich nur Unverständnis, niemand wollte hinsehen, was da passiert ist. Nur ich hatte ein Kind, das mir erzählte, nicht mehr leben zu wollen.

Die Förderschule hatte mein Sohn schon nach 6 Wochen verlassen – das Tempo dort war viel zu langsam für ihn. Glücklicherweise hatte er in den ersten zwei Jahren in der Grundschule die Schulspychologin als Klassenlehrerin, die gut mit ihm umgehen konnte. Sie ließ ihn unter dem Tisch liegen, aber auch vor die Tür gehen, wenn er seine Ruhe brauchte. Das änderte sich mit dem dritten Schuljahr, als er eine Lehrerin bekam, die mehr als nur genervt von ihm war. Wieder ging es meinem Sohn sehr schlecht und diesmal bekam er einen Platz in einer Tagesklinik. Dort wurde – nach Kontakt mit dem JA – eine andere Diagnose gestellt, eine „Anpassungsstörung“. Interessant, wie ich heute denke, denn die „Anpassungsstörung“ dauert nun schon  lebenslänglich. Außerdem riet man mir, auf der weiterführenden Schule – ein Gymnasium – erstmal nichts zu sagen. Anders gesagt: man nahm mich nicht ernst.

Aber…ich hielt mich wieder an den Rat des Arztes und es war die schlechteste Entscheidung, die ich hätte treffen können. Es dauerte nur wenige Tage, bis der erste Anruf aus der Schule kam, mit dem bitteren Vorwurf, wie ich denn mein Sohn ohne Aufklärung dorthin schicken könnte. Zeitgleich ging es meinem Sohn wieder schlechter, wieder kamen Suiziddrohungen. Glücklicherweise bekam er schnell einen Platz in der KJP, wo er über 2 Monate hinweg stationär beobachtet wurde. Danach war klar, dass es Autismus ist. Auf meine Frage, weshalb man die Diagnose nicht in der Tagesklinik gestellt hätte, antwortete man mir: „Die haben ihn ja nur tagsüber gesehen, wir ihn aber rund um die Uhr“. Witzig, denn die gleiche Frage hatte ich auch schon in der Tagesklinik gestellt, weshalb denn die Fachärzte eine andere Diagnose gestellt hätten. Da kam: „Ja, aber sie haben ihn immer nur kurz gesehen, wir aber den ganzen Tag.“

Auch nach der Diagnose lief es auf dem Gymnasium nicht mehr gut. An den Noten lag es nicht, aber das Verhältnis zu den Lehrern war nicht mehr zu korrigieren und auch die Eltern der anderen Kinder fanden es befremdlich, mit dem „Behinderten“, denn der hatte nun auch noch eine Schulbegleitung. Es gab Mütter, die sich bei mir beschwerten, dass mein Sohn Unterstützung bekommt, aber ihres nicht. Wenn ich fragte, ob ihr Kind eine Diagnose hätte, kam:“Nein, aber es ist trotzdem ungerecht“. Die Schulbegleitung machte es nicht besser, denn die Dame schrie auch die anderen Kinder an und regelmäßig gab es Beschwerdebriefe an die Schulleitung.

Mir wurde klar, dass ich meinen Sohn da raus nehmen musste und suchte nach einer Alternative. Das war nicht einfach. Ich war zu diesem Zeitpunkt selbst in der Schule, einer BOS, um mein Abitur nachzumachen und gerade im „Abistress“. Aber mein Sohn ging vor und so klapperte ich mit Hilfe des AKM alle Schulen ab, bis ich endlich eine fand, die sich – mit mehrmonatiger Vorbereitungszeit – bereit erklärte, meinen Sohn aufzunehmen. Auch dort lief zu Beginn nicht alles gut. Mein Sohn wurde mit Essensresten beworfen, ihm ein Stift in der Umkleidekabine in den Po gesteckt, ihm sogar eine Schnur um den Hals gelegt und zugezogen. Aber ich hatte Unterstützung, mein Sohn mittlerweile eine gute Schulbegleitung und diesmal die Schulleitung hinter uns. Es gab viel Aufklärung von Seiten der Schule und mit Unterstützung vom AKM und vom MSDA. Ich kann nicht sagen, dass mein Sohn jetzt voll integriert ist, aber er wird akzeptiert. So wie ich inzwischen akzeptiert habe, dass mein Sohn behindert ist – so wie auch ich es bin.

#AutismIsNotACrime

„Autismus ist kein Verbrechen“, lautet die Aussage des Hashtags, unter dem gerade auf Twitter weltweit Autist*innen gegen die massive Konstruktion einer kausalen Verbindung von Autismus und Gewaltverbrechen durch die Medien protestieren. Dabei entstehen gerade unzählige, fantastische Blogartikel.

Aktueller Auslöser ist die Mordserie durch Elliot Rodger in Kalifornien. Bei ihm wurde angeblich als Kind das Asperger-Syndrom diagnostiziert, behauptete eine Zeitung. Reflexartig griffen andere Medien diese Aussage auf, insbesondere hier in Deutschland schaffte es dieses Detail direkt in die Überschriften, während alle anderen, wirklich wichtigen Umstände völlig vernachlässigt wurden. Wie zum Beispiel der maßlose Frauenhass des Täters oder die Namen seiner Opfer. Oder dass er seine Taten angekündigt hat, die Polizei das aber nicht ernstnahm. Oder dass er seit vielen Jahren in therapeutischer Behandlung war und trotzdem niemand etwas getan hat. Oder dass er in den USA ganz legal ein ganzes Waffenarsenal ansammeln durfte. Alles nicht wichtig, so lange man eine schöne Schlagzeile hat und so ein autistischer Amokläufer macht sich doch immer gut (Ironie).

Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass es noch nicht mal die Wahrheit ist. Eine reine Vermutung der Eltern, die ihren Sohn nicht verstanden haben und überfordert waren. Autisten ist ja schließlich alles zuzutrauen und die Eltern sind dann unschuldig. Die können ja nichts dafür, dass er zu solchen Monströsitäten fähig war, er war ja Autist! (Ironie)
Wie auch immer, ich finde es garnicht wichtig, ob er denn jetzt nun Autist war oder nicht. Es spielt schlicht und ergreifend keine Rolle. Was ich allerdings wichtig finde, ist der Umgang der Medien damit. Er war vor allen Dingen ein Mensch, der Frauen und andere Menschen so sehr gehasst hat, dass er sie umgebracht hat. Das spielt eine Rolle. Über die Gründe dafür sollen Andere schreiben – was aktuell auch ausgiebig getan wird.

Autismus ist kein Verbrechen. Vor allem ist Autismus nicht die Ursache für Gewalttaten, die von Menschen verübt werden.

Autisten begehen weniger Verbrechen als Nichtautisten, werden gleichzeitig aber wesentlich häufiger Opfer von Gewaltverbrechen. Wir werden schon als Kinder geschlagen, getreten und gedemütigt. In der Schule, auf der Straße und in unserem eigenen Zuhause. Wir werden behandelt wie Dreck. Kinder und Jugendliche terrorisieren und quälen ihre autistischen Mitschüler*innen. Mobbing, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen sind auch für erwachsene Autist*innen bittere, tägliche Realität.

Als wäre das noch nicht genug, stellt man uns bei jeder nur möglichen Gelegenheit als Gewaltverbrecher dar. Gefühlskalte, emotionslose Monster, die Menschen bestialische Dinge antun.

UNS tut man bestialische Dinge an. Bestialisch = unmenschlich. Man quält, missachtet und misshandelt uns und spricht uns unsere Menschlichkeit ab. IHR tut uns das an. IHR, die ihr am lautesten „Monster“ schreit, wenn wieder mal ein Autist als Verbrecher in den Medien dargestellt wird. IHR, die ihr fordert, man solle uns alle wegsperren. IHR, die ihr autistische Kinder „nur zur Sicherheit“ mit Mikrochips markieren wollt, als wären sie Hunde. IHR, die ihr uns das Recht zur Reproduktion absprecht. IHR, die ihr fordert, man solle uns am besten direkt umbringen.

IHR wagt es zu urteilen?
Wer ist hier wirklich das Monster?
Wer von uns verhält sich wirklich unmenschlich?
Vor wem sollten wir wirklich Angst haben? – Vor dem überforderten autistischen Kind, das in einer feindseligen Umwelt zu überleben versucht? Oder vor den Kindern, die es brutal zusammenschlagen, sein Leben bedrohen und es dann noch anpinkeln? (Ja, das erleben sehr viele autistische Kinder Tag für Tag.)

Eure scheinheilige Doppelmoral widert mich an. Ihr lasst zu, dass eure eigenen Kinder Andere wie Dreck behandeln und dann stellt ihr uns als emotionslose, asoziale Monster dar. Merkt ihr wirklich nicht, wer hier tatsächlich das Problem ist? Fragt euch doch endlich, was mit dem Sozialverhalten EURER Kinder nicht stimmt, wenn sie auf Schwächere einprügeln müssen, sie demütigen und ausgrenzen. Fragt euch lieber, was mit EUREM Menschenbild nicht in Ordnung ist, wenn ihr sie dafür auch noch in Schutz nehmt.

Aber hört verdammt nochmal auf uns als Verbrecher hinzustellen. Und fangt endlich damit an respektvoll und achtsam mit anderen Menschen umzugehen. Mit allen Menschen. Das schließt auch die ein, die ihr nicht versteht, weil sie anders sind, als ihr es seid.

Anna

Ausbeutung von Autisten – auch unter Therapeuten gibt es „schwarze Schafe“

Lieber würde ich über dieses Thema nicht schreiben – die Wunden sind noch frisch und nicht verheilt. Dennoch: ich halte es für nötig, damit nicht ich und jeder andere Autist für sich solche schlechte Erfahrungen machen muss. Wir müssen uns vernetzen und uns gegenseitig schützen.

Ich kenne kaum einen Autisten, bei dem bei der Diagnostik alles gut lief, meistens braucht es mehrere Anläufe, bis man den „richtigen“ Psychiater findet – denn nur diese sind in der Lage, eine Diagnose zu stellen. Häufig werden „Diagnosen“ schon von Lehrern, Erziehern oder sonstigen Menschen vorab gestellt, aber das sind nicht die Fachleute. Dies nur vorab – das könnte auch schon ein Thema für sich sein. Auch nicht alle Psychiater sind auf Autismus spezialisiert, da ist es ratsam, sich wirklich an einen Experten zu wenden. Was auch nicht einfach ist, denn es gibt zu wenige, die Praxen sind voll, eine Wartezeit von einem halben Jahr ist normal. So gesehen, ist die Situation schon nicht einfach.

Aber es kommt noch schlimmer.

Was ist, wenn man dann tatsächlich eine Diagnose hat? Es gibt Menschen, denen es einfach reicht, zu wissen, was mit ihnen los ist Es gibt viele Bücher zu dem Thema und manch einem mag das genügen. Aber was ist, wenn man therapeutische Hilfe benötigt?

Ich kann hier nur von mir schreiben. Ich habe gemerkt, dass ich weitere Hilfe brauche und mir einen „Experten“ gesucht. Jemand, der sich mit Autismus auskennt, so dachte ich und der so auch Weiterempfohlen wird. In Ermangelung auch nur einer einzigen Alternative habe ich mich also in „die Hände“ dieses Therapeuten gegeben. Ich hätte auch ausgeliefert schreiben können, denn das war ich. Nicht nur ich, sondern auch mein Geldbeutel, denn eine Kassenzulassung hatte er nicht.

Wie jeder Autist, der ständig erfährt, dass er „nicht richtig“ ist, so wie er ist, habe ich die vielen Puzzlestücke, die mir schon recht früh die Augen hätten öffnen können, als eine Wahrnehmungsstörung meinerseits eingeordnet. Aber das Unbehagen wuchs und wuchs und bald bin ich nicht mehr alleine zu ihm hingegangen. Erst waren es so Kleinigkeiten, wie beispielsweise, dass ich ihm sagte, dass ich sehr Geräuschempfindlich bin. Beim nächsten Termin kaute er demonstrativ Kaugummi. Als ich ihn darauf ansprach, entschuldigte er sich zwar, stellte aber in die nächste Gruppenstunde – keine 10 Minuten später – Salzstangen auf den Tisch.

Dann wurde ein Ausflug geplant. Auch da erklärte ich im Vorfeld, dass ich nicht nur Geräuschempfindlich bin, sondern auch sehr ungerne in großer Gesellschaft bin – dass ich nicht gerne berührt werde, war, so dachte ich, ihm klar. Der Ausflug ging inmitten durch den Münchner Weihnachtsmarkt. Der Therapeut mit einer weiteren NT ganz vorneweg – zeitweise ganz verschwunden – und ich hatte zum Glück einen anderen Autisten an der Seite, der mich sicher durch das Gewühl brachte. Danach war ich zwei Tage so ausgelaugt, dass ich nicht mehr aus dem abgedunkelten Schlafzimmer gekommen bin. Auch da gab es nur Unverständnis.

Es folgte nun eine Weihnachtsfeier, bei dem eigentlich nur unsere Aspie-Gruppe teilnehmen sollte – aber es kamen noch mehr Menschen, ja, plötzlich war der ganze Verein da. Es wurde getrunken und laut gesungen und ich bin geflüchtet.

Ein paar Monate später gab es eine Reise, vom Therapeuten gebucht. Ich hatte – nach den ganzen Vorfällen davor nicht damit gerechnet, dass meine Grenzen noch weiter ausgetestet werden könnten. Die Reise beinhaltete zunächst eine U-Bahn-Fahrt, im Anschluss eine Fahrt im vollbesetzten Pendlerzug, danach noch eine S-Bahn-Fahrt zum Flughafen. Im Flughafen wurde ich abgetastet, für mich eine furchtbare Situation. Meinen Therapeuten hat es nicht interessiert, er ging kaugummikauend weiter. Dann der Flug – eine Fluglinie, bei der nicht mal die Plätze reserviert sind (das hat mein Mann übernommen, ich hätte niemals neben jemand fremden in dieser Situation sitzen können) und im Anschluss noch eine Taxi-Fahrt. Die Reise war für mich so traumatisch, dass ich vorzeitig abbrechen und mein Mann einen teuren Flug für uns zurück buchen musste. Natürlich gab es auch da kein Verständnis.

Vor meinen Klausuren geht es mir schon 4 Wochen vorher nicht gut. Das trifft es nicht ganz – mir geht es sehr, sehr schlecht. Ich schreibe meine Klausuren auch nur unter Tavor – einmal waren es 3 Tabletten. Eigentlich hatte ich gehofft, dass mein Therapeut mit mir ein Konzept erarbeitet, mit dem ich besser klar komme und nicht nur betäubt mit der Situation zurechtkomme (Was eigentlich auch nicht stimmt, denn die Ergebnisse unter solchen Gegebenheiten kann man sich vorstellen). Aber auch das hat ihn nicht interessiert, er rief nur einmal an, weil ich ihm in einer anderen Sache helfen sollte. Erschöpft wollte ich abwiegeln, aber er ließ mir keine Ruhe.

Dann gab es noch ganz unangehme Dinge, die ich aber nicht vertiefen möchte. Nur einen Vorfall möchte ich noch erwähnen. So erzählte der Therapeut, wie ein anderer Autist sich „aufgeführt“ hat und er ihn mal „zusammenscheißen“ musste. Er ist eben auch nur ein Mensch, nicht immer nur Therapeut. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er, er hätte nur von sich erzählt. Er hat gar nicht verstanden, was er da geäußert hat…

Ich weiß, dass auch andere Autisten mit ihm negative Erfahrungen gemacht haben, aber ich denke, es ist besser, wenn sie für sich sprechen.

Ich finde es schlimm, dass es solche Therapeuten gibt. Wir Autisten, die oft so ehrlich und naiv sind, können uns gar nicht vorstellen, dass sich jemand als „Experte“ ausgibt, wenn er es nicht ist. Wenn wir nicht klar kommen, muss es wohl an uns liegen.

Was wir brauchen, sind mehr richtige Autismus-Experten. Experten, die auch von uns Autisten geschult werden, denen wir einen Einblick auf unsere Sicht der Dinge geben können, damit solche Sachen nicht immer wieder passieren.

 

Suizidgedanken bei Autisten – Depression oder etwas ganz anderes?

Je mehr Autisten ich kenne und je mehr ich aus dem Leben der anderen erfahre, desto deutlicher wird mir eine Gemeinsamkeit bewusst. Sicher nicht bei allen, aber bei einer erschreckend hohen Anzahl.

Es ist das Gefühl, dass das Leben so schwer ist, dass es einfach eine Qual ist. Letzte Nacht hatte ich einen Traum: Ich selbst lag auf einem Krankenbett auf einer Sterbestation und ein Arzt kam und teilte mir mit, dass ich innerhalb der nächsten zwei Tage sterben würde. Später kam er wieder und meinte, er hätte sich vertan, ich hätte noch 2 Wochen. Aufgewacht bin ich mit einem Gefühl der Wut und Verzweiflung. „Was, noch 2 Wochen muss ich diesen Mist hier aushalten?“

Dabei handelt es sich nicht um eine „normale“ Depression. Das würde bedeuten, dass das Leben immer kaum aushaltbar wäre, nicht nur temporär. Es ist immer dann schlimm, wenn die Außenwelt so sehr mein Leben beeinflusst, dass ich merke, dass sie meine Kräfte übersteigt.

Ganz gut kann ich das auch an meinem autistischen Sohn beobachten. Er hatte schon in früher Kindheit geäußert, nicht mehr leben zu wollen, inzwischen bekommt er Antidepressiva. Bei ihm scheint das etwas zu helfen, auch wenn er weiter durch die Außenwelt so gestresst ist, dass er sich die Haare ausreißt und seine Finger blutig beißt – bei mir nicht. Das ist nun auch keine Überraschung, denn Autisten reagieren auf Medikamente nicht wie NT´s. Leider wissen dies nur wenige Ärzte und dementsprechend kommt von dieser Seite wenig Hilfe.

Wenn ich zum Arzt gehe und berichte, wie es mir geht, werde ich oft nicht ernstgenommen. Ich kann gar nicht mehr aufzählen, wie oft ich den Satz gehört habe: „Aber Sie sehen doch gut aus?“ Oder: „Wenn es Ihnen schlecht gehen würde, würden Sie anders aussehen“. Natürlich habe ich mir schon oft Gedanken darüber gemacht, weshalb meine inneren Nöte nicht nach draußen klingen. Einerseits fehlt mir wohl der Gesichtsausdruck, den ein leidender Mensch zeigen muss und andererseits bin ich im „Schauspielmodus“, wenn ich das Haus verlasse. Der ist schon so perfekt eingeübt, dass ich ihn gar nicht mehr aufgeben kann. Dazu gehört perfektes Styling und Makeup – alles abgeschaut. Wenn ich zu Hause bin, wird alles ausgezogen, wie eine Haut, die abgestreift wird. Sie ist nämlich nicht meine.

Ich frage mich, wie die Situation für Autisten verbessert werden könnte, damit so viele von uns nicht nur ein „etwas weniger schlechtes Leben“, sondern ein schönes Leben leben könnten. Für mich wäre zum Beispiel eine Arbeit, die mir gerecht werden würde (also nicht intellektuell unterfordernd) und die mich gleichzeitig nicht überfordert (mit Menschenkontakt, hellem Licht, lauten Tönen, etc.) ein Traum. Ich würde mich wertgeschätzt fühlen, wenn ich so eine Arbeit nicht aus einem Mitleidsakt erhalten würde, sondern weil man meine Fähigkeiten schätzt.

Das ist auch so eine Hoffnung von mir: dass die Außenwelt uns nicht nur als schwierig und Kostenintensiv und auffällig wahrnimmt, sondern als gleichwertige Mitglieder unserer Gesellschaft. Trotz all unserer Schwierigkeiten bieten wir Autisten alle einen Blick auf eine andere Welt, teilweise mit besonderen Fähigkeiten. Es wäre schön, wenn diese Welt in der realen Welt der NT´s integriert werden könnte. Dann gäbe es keinen Grund mehr zum flüchten – im schlimmsten Fall aus dem Leben.

Du bist Autistin und hast Gefühle? Wie geht das denn?

So oder so ähnlich hat es wohl jeder Autist schon einmal zu hören bekommen. Leider nicht nur von unwissenden Mitmenschen, sondern auch von Experten, wie beispielsweise Psychologen, Therapeuten und Ärzten.

Im Grunde kann ich nur für mich sprechen, aber durch Gespräche mit anderen Autisten habe ich erfahren, dass auch sie durchaus Gefühle haben – aber sie nicht nach „außen“ bringen können (selbst mein Mann weiß oft nich so genau, woran er bei mir ist), genauso, wie wir Probleme damit haben, Gefühle bei anderen Menschen zu erkennen.

Mir ist das inzwischen sehr bewusst und so bin ich im Kontakt mit anderen Menschen immer hochkonzentriert und beobachte, damit mir nichts entgeht. Das scheint allerdings auch nicht „passend“ zu sein, denn ich habe auch schon gehört: „Schau mich nicht ständig an!“ Früher habe ich Augenkontakt übrigens auch gemieden. Inzwischen habe ich gelernt, mich dazu zu zwingen. Inzwischen bin ich Expertin in Augenkontakt 🙂 .

Dabei habe ich hart an meiner Technik gearbeitet: jahrelang habe ich mir TV-Sendungen nur im Hinblick darauf angesehen, wie Menschen untereinander agieren. Habe gelernt, welcher Satz auf welchen folgen muss und was bestimmte Sätze auslösen. In meinen Bücherregalen stehen Bücher über Mimik, Gestik und Kommunikation. Trotzdem – es scheint zwar oberflächlich zu funktionieren, vielen fällt nicht auf, dass ich Autistin bin (mein Lächeln habe ich inzwischen perfektioniert, glaube ich zumindest 🙂 ) – aber es ist jedes Mal für mich wahnsinnig anstrengend, mit Menschen zu kommunizieren. Es ist schauspielern. Das habe ich einem anderen, wesentlich älteren, also erfahrenen Autisten erzählt und ich spürte, dass er mich verstand. Er meinte zu mir: „Auch die NT´s schauspielern – sie wissen es nur nicht.“

Ich habe bei mir gemerkt, dass ich meine Gefühle auf mein Gegenüber projiziere. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich nur meine Reaktion auf bestimmte Situationen kenne. Wenn das Gegenüber plötzlich ganz anders reagiert, bin ich überfordert. Im schlimmsten Fall entziehe ich mich, in dem ich einfach gehe. Bin ich gezwungen, in der Situation zu bleiben, verstumme ich.

Außerdem habe ich manchmal das Gefühl, regelrecht von Informationen „überflutet“ zu werden. Das ist dann wohl tatsächlich fast so wie ertrinken – innerlich fliegt eine Sicherung raus.

Viele Jahre habe ich nicht gewusst, was mit mir los ist. Dass etwas mit mir nicht stimmt, war mir klar. Aber noch mehr Angst hatte ich, aufzufallen. So habe ich versucht, perfekt zu kopieren. Lieber war ich auch unbeliebt, als dass jemand merken könnte, dass ich „nicht richtig“ bin. Meine größte Angst dabei war immer, in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen zu werden, ich hielt mich für „irgedwie verrückt“. Irgendwann konnte ich mich aber nicht mehr ständig anpassen, die Kraft war nicht mehr da.

Was mich als Mutter natürlich zu der Frage bringt, wie ich meinem autistischen Sohn auf das Leben „draußen“ vorbereite. Oft wird vertreten, dass mit Sozialtrainings alles besser wird. Dort werden Situationen trainiert (und im schlimmsten Fall unter ganz üblen Bedingugen, wie z.B. bei ABA) und der Autist soll dadurch besser Anschluss an die Gesellschaft finden. An sich keine schlechte Idee… wenn man NT ist. Ich selbst sehe das inzwischen zwiespältig, denn es vermittelt deutlich; du bist nicht okay, so wie du bist! Wenn ich also nur gemocht werde, weil ich so gut schauspielern kann, was bleibt dann von mir selbst? Davon abgesehen, dass es nicht wirklich funktioniert. NT´s scheinen ein feines Gespür dafür zu haben, wenn etwas nicht stimmt. Ich vermute, sie erfassen, dass eine Gesichtsregung nicht passt, oder die dazugehörige Körpersprache.

Ich kann heute viele Dinge und kann sie doch nicht. Es hängt immer davon ab, wie viel Kraft mir gerade zur Verfügung steht. Für NT´s schwer zu verstehen, denn entweder kann man etwas, zum Beispiel telefonieren, oder man kann es nicht. Es ist wohl schwer vorstellbar, wie knifflig es ist, ständig in einer komplizierten Fremdsprache kommunizieren zu müssen, die einem selbst so schwierig ist, wie es wohl für eine Krabbe sein muss, wie ein Mensch zu laufen.

Ich bin froh, hier bei Autland angekommen zu sein und inzwischen auch einige Autisten im Netz kennengelernt zu haben. Es ist so wunderbar, sich austauschen zu können, ohne sich ständig darüber Gedanken machen zu müssen, ob bei meinem Gegenüber auch tatsächlich das ankommt, was ich vermitteln wollte. Das ständige „zwischen den Zeilen lesen“ fällt weg.

Trotzdem würde es mich noch glücklicher machen, wenn ich mich auch in der Welt „draußen“ wohlfühlen könnte. Dazu fehlt mir eigentlich nur eines: als Autistin so akzeptiert zu werden, wie ich bin.