Ich habe es nie verstanden.
Warum wir ein Rätsel für nichtautistische Menschen sind. Ich habe nicht begriffen, was ihr Problem ist. Warum sie uns nicht einfach als die Menschen sehen, die wir sind. Warum sie uns mit unserem Autismus zu einem Mysterium erklären und es sich zur Lebensaufgabe machen, das Rätsel zu lösen. Warum sie uns so entmenschlichen, indem sie uns als etwas Anderes sehen, als einfach einen Menschen. Einen ganz normalen Menschen. Ich habe nicht verstanden, warum alle großen Elternorganisationen auf diesem Planeten sich darin einig zu sein scheinen, dass ein einzelnes Puzzlestück das treffendste Symbol für ihre autistischen Kinder sein soll.
Ich dachte, es ist eine bewusste Entscheidung. Eine bewusste Entscheidung, die aus Engstirnigkeit getroffen wird. Aus Intoleranz. Aus Ignoranz. Weil sie nicht bereit sind, sich über aufgeprägte, durch sozialen Druck erzeugte Vorstellungen von „Normalität“ und „Angemessenheit“ hinwegzusetzen. Weil sie feige sind. Oder unsicher. Oder nicht liebevoll genug, um ihre Kinder wichtiger zu nehmen als die Vorstellungen und Erwartungen einer kranken Gesellschaft.
Ich verstehe bis heute nicht, worin das Rätsel besteht. Wenn ich anderen Autisten begegne, sehe ich einfach Menschen. Individuen. Persönlichkeiten. Ganz gleich, ob sie sprechen oder nicht, auf welche Weise sie kommunizieren. Ich habe nicht das Gefühl, mich fundamental von ihnen zu unterscheiden. Im Gegenteil. Ich verstehe, ich spüre, ich fühle mit. Es ist irgendwie alles klar und selbstverständlich. Kein Rätsel. Kein Puzzle.
Ich bin Autistin und ich habe mein Leben zwischen Nichtautist_innen verbracht. Ich kann in den meisten Situationen sprechen und habe gelernt mit Nichtautist_innen auf ihrer Ebene zu kommunizieren. Naja, bis zu einer gewissen Grenze jedenfalls. Ich habe mir immer eingebildet, dass ich sie schon ganz gut verstehen kann. Ich habe viel über ihre Sprache und ihre Verhaltensweisen gelernt.
Jetzt merke ich immer deutlicher, dass sie mir ein größeres Rätsel sind, als ich dachte. Dass ich so viele Annahmen mache, voraussetze, dass wir Dinge ähnlich empfinden und wahrnehmen. Dass Nichtautisten zum Beispiel die gleichen Dinge wahrnehmen, wie ich, nur dass sie in der Lage dazu sind Störendes, im Moment Irrelevantes auszublenden. Bei Bedarf aber ihre Aufmerksamkeit ganz willkürlich auf ein anderes Geräusch, einen anderen Geruch, ein anderes Detail richten können. Aber dass sie, unterm Strich, auch nichts Anderes wahrnehmen als ich. Nur auf geordnetere Weise.
Ich habe nicht verstanden, warum es ihnen so schwerfällt sich vorzustellen, wie es ist, wenn dieses Umschalten und Filtern nicht funktioniert. Wenn sie all die Dinge gleichzeitig, gleich laut, gleich intensiv wahrnehmen würden. Warum sie nicht verstehen, wie sehr einen das auslastet und oft überlastet. Ich habe nicht verstanden, warum sie nicht verstehen, dass es manchmal unerträglich ist. Warum sie nicht verstehen, dass all die verschiedenen Varianten von Stimming absolut naheliegend und logisch sind. Dass ihre Funktionen, die damit verbundenen Empfindungen, doch ganz offensichtlich sind.
Ich dachte, es ist ab einem gewissen Punkt reine Engstirnigkeit. Fehlende Bereitschaft sich einzulassen und den eigenen Horizont zu erweitern.
Je mehr ich mit nichtautistischen Menschen zu tun habe, die sich mit Autismus befassen, desto mehr verstehe ich, dass ich mich in vielen Punkte irre. Sie hören nicht, was ich höre. Sehen nicht, was ich sehe. Spüren nicht, was ich spüre. Nicht nur weniger davon oder kontrollierter als ich. Sie nehmen es überhaupt nicht wahr. Sie begreifen wirklich nicht, was für mich so selbstverständlich Sinn macht.
Und dann beginne ich zu begreifen. Wie wenig ich tatsächlich verstehe. Wie wenig ich ihnen in Wirklichkeit ähnle, obwohl wir uns auf den ersten Blick nicht unterscheiden.
Ich habe einen jungen Autisten kennengelernt, dem ich zuvor nicht begegnet war. Auf den ersten Blick sind wir sehr verschieden. Er spricht nicht wie ich, benötigt im Alltag viel Unterstützung und lebt ein völlig anderes Leben, als ich. Und doch besteht kein Zweifel daran, dass ich mich ihm soviel ähnlicher und näher fühle, als all den nichtautistischen Menschen, deren mündliche Sprache ich spreche, deren gesellschaftliche Konventionen ich mir angeeignet habe und die sich überall um mich herum befinden. Die gleichen Worte einzusetzen, bedeutet eben noch nicht die gleiche Sprache zu sprechen.
Und mir wird bewusst, so schmerzhaft bewusst, was mir mein Leben lang fehlt. Menschen wie mich um mich zu haben, die fehlende Notwendigkeit Selbstverständliches auszusprechen. Überhaupt zu sprechen. Intuitives Verstehen. Verständliche Kommunikation ohne Worte. Die Chance eine gemeinsame Kultur zu leben. Mir wird wieder so schmerzhaft bewusst, wie allein ich mein Leben lang war.
Mir wird klar, wie sehr viele von uns „sprechenden“ Autist_innen in (teilweise selbst) antrainierten Verhaltensweisen feststecken, die uns überhaupt nicht passen. Wie wir uns auf so vielen Ebenen angepasst haben, weil wir niemals die Chance hatten uns mit und zwischen Menschen zu entwickeln, die so (ähnlich) wahrnehmen und denken, wie wir. Wie verloren viele von uns sind.
Uns wird so oft von Nichtautist_innen gesagt, wir könnten garnicht für ihre „schwerbetroffenen“ autistischen Kinder sprechen. Weil wir nicht wie sie wären. Weil wir zu „normal“ wären. Zu wenig autistisch. Der Gedanke lässt mich beinahe verzweifeln und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Leben lang hat diese Gesellschaft aus Nichtautisten uns gezwungen uns ihnen anzupassen. Uns mit Gewalt und Brutalität gelehrt, dass wir ihnen ähnlich sein müssen, wenn wir überleben wollen. Einige von uns hatten das Glück oder das Pech diese Anpassungsleistung vollbringen zu können (ungeachtet des Preises). Und jetzt verwenden sie das, was sie uns angetan haben, als Argument gegen uns. Gegen ihre Kinder. Gegen unser Recht für uns selbst zu sprechen und für diejenigen von uns, die es nicht immer können.
Ich maße mir nicht an für alle Autist_innen zu sprechen. Aber ich erlaube mir für unsere Rechte zu kämpfen und das schließt alle Autist_innen ein. Hierzu ein wirklich lesenswertes Statement. Ich zweifle nicht daran, dass ich im Sinne anderer Autist_innen sprechen kann. Mittlerweile zweifle ich jedoch daran, ob ich es in einer Weise tun kann, die nichtautistische Menschen wirklich begreifen können.
Wir sind euren Kindern ähnlicher, als euch. Viel ähnlicher. Ich ahne, wie schmerzhaft es sein muss das zu akzeptieren. Das gilt für beide Seiten. Aber das macht es nicht weniger real.
Ich will nicht an dieser Stelle aufhören.
Ja, wir unterscheiden uns. Viel mehr, als manche annehmen. Aber zu welcher Schlussfolgerung führt das? Dass wir nicht in der Lage sind uns gegenseitig zu verstehen? Dass wir also garnicht erst versuchen sollten, Verständnis für die Anderen zu entwickeln? Dass Nichtautisten die Empathie fehlt sich in Autisten einzufühlen?
Ich glaube nicht daran. Ich glaube nicht, dass es eine zwangläufige Folge ist. Ich glaube, dass wir als Menschen mehr gemeinsam haben, als dass wir uns unterscheiden. Ich glaube, was euch Nichtautisten fehlt, ist nicht die Fähigkeit, Empathie für Autisten aufzubringen. Was vielen von euch fehlt, ist die Bereitschaft uns zu akzeptieren und zu respektieren, wie wir sind. Insbesondere mit den Aspekten unseres Seins, die ihr tatsächlich nicht verstehen könnt. Denn hier beginnt echte Akzeptanz überhaupt erst. Annehmen, respektieren und lieben, was sich offenbar so fundamental von eurem eigenen Empfinden unterscheidet.
Ich jedenfalls bin in der Lage mitzufühlen, wenn ihr verzweifelt seid, wenn euch etwas wehtut. Ich kann eure Hilflosigkeit sehen, euren Wunsch nach Verbindung und Verstehen und Nachvollziehen. Ich kann den Schmerz spüren und die Traurigkeit und auch das Glück. Auch wenn ihr mir oft ein Rätsel seid und ich nicht in eurer „Haut stecke“ (RW). Das muss ich nicht. Darauf kommt es überhaut nicht an.
Anna